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Georgien /5 - Gori & Stalin

Aktualisiert: 9. Sept. 2023

08.09.2023: Besuch eines Museums, das einen in seiner unkommentierten Verherrlichung eines Massenmörders deutlich verstört zurücklässt.

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Stalin-Museum in Georgien -

Ein Tempel für den Massenmörder

[Quelle: Spiegel Online vom 15.07.2019]


Wer die georgische Stadt Gori besucht, staunt nicht schlecht: Das Stalin-Museum verherrlicht den Diktator, den weltberühmten Sohn der Stadt. Und hat damit kommerziellen Erfolg.


"Er hat auch Gedichte geschrieben", sagt die Museumsführerin, und ihre sonst so feste Stimme wird plötzlich ganz weich. Die vielleicht 50-jährige Frau, knielanger Rock, Haarknoten, deutet auf das große Bild, auf dem der Held ihres Museums ein kleines Mädchen väterlich im Arm hält. Er, der "Vater der Völker", der "Generalissimus", der große "Führer" der Sowjetunion, ist nur ein paar Schritte von hier entfernt geboren worden. Er, Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, wie er damals im Jahre 1878 genannt wurde: Josef Stalin.


Der weltberühmte Sohn der georgischen Stadt Gori steht auf einem steinernen Sockel vor dem Stalin-Museum und blickt visionär in die Ferne. Verehrer haben frische Blumen zu den Füßen der überlebensgroßen Statue niedergelegt. Mehrere Teilnehmer einer Reisegruppe aus Frankreich haben zuvor ihre Selfiesticks gezückt, um sich zusammen mit dem Denkmal abzulichten. Dann sind sie hineingegangen in den palastartigen Bau, haben ihre 15 Lari (knapp fünf Euro) Eintritt gezahlt, sind die mit rotem Teppich belegten Marmorstufen hinaufgeschritten: zur nächsten blumengeschmückten Büste des "Woschd", des Führers. Jetzt bekommen sie zu hören, was für ein einzigartiger Mensch er doch war, der Kamerad Stalin.


Was war mit der Hungerkatastrophe in der Ukraine?

"Unter ihm gab es keine Arbeitslosen mehr", erzählt die Museumsführerin den Franzosen. "Bildung war gratis, die Krankenhäuser waren gratis, alle Menschen hatten immer genug zu essen." Es rumort in der Gruppe, ein Besucher fragt nach: "Was war mit der Hungerkatastrophe in der Ukraine?" - "Das waren Trotzkisten. Die haben künstliche Probleme geschaffen", erwidert die Museumsführerin.


Sie lässt nichts kommen auf ihren Stalin. Den vielleicht zweitschlimmsten Verbrecher des 20. Jahrhunderts. 26 Jahre lang hat der Mann aus Gori, 48.000 Einwohner, anderthalb Autostunden nordwestlich der Hauptstadt Tiflis, allein die Sowjetunion beherrscht. Er hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und den Arbeiter- und Bauernstaat zur militärischen Supermacht gemacht. Dabei hat er Millionen Menschen unterjocht, bespitzelt, in Schauprozessen verurteilen lassen. Sie foltern, deportieren, in den Gulags zu Tode schuften oder gleich umbringen lassen - einschließlich eigener Weggefährten. Bis zu 20 Millionen Menschenleben soll der Tyrann Historikern zufolge auf dem Gewissen haben. Zählen konnte sie niemand.


Das Stalin-Museum am Stalin-Boulevard Nr. 32 zeigt die dunklen Seiten kaum. Es ist ein Stalin-Tempel. Da sind die Bilder und Wandteppiche: Stalin als junger, blendend aussehender Revoluzzer (sein Portraitfoto ist größer als die Fotos der Kampfgenossen). Stalin mit Lenin (Stalin doziert, Lenin notiert). Stalin umringt von Arbeitern.


Personenkult wirkt noch heute

Da ist die Ausstellung der Geschenke für den Woschd: Vom Reiskorn, auf dem eine Stalin-Hymne verewigt ist, über die Vasen mit seinem Konterfei, bis zu Selbstgestricktem aus Italien. Da ist das nachgebaute Büro: mit Stalin-Reliquien wie seinen Lieblingspapirossi, seinen Aschenbechern, seinem Füllfederhalter, seiner Uniform. Und da ist: der Totensaal. Umringt von Säulen und Stalin-Porträts, angestrahlt von Scheinwerferlicht, erhebt sich in der Mitte des Raumes auf einem Podest eine Totenmaske des Diktators.

Wer das wenige Jahre nach Stalins Tod eröffnete Museum besucht, der kriegt eine Idee, wie immens der Personenkult um ihn war - und bis heute noch nachwirkt. Zwei Besucher haben beim Anblick der Maske Tränen in den Augen.


Dabei sollte aus dem Stalin-Museum einst ein Stalinismus-Museum werden. 2012 kündigte Georgiens Kulturministerium an, die Stätte solle künftig den Opfern Ehre tun. Dass davon bis heute kaum etwas zu sehen ist, liegt vielleicht an Leuten wie Giorgi Sigua. "Stalin ist Teil unserer Geschichte und deswegen eine Touristenattraktion", erklärte der damalige Chef der georgischen Touristenbehörde 2013. "Georgien wird das für seinen wirtschaftlichen Vorteil nutzen." Vor allem auf dem chinesischen Markt könne man Stalin als Touristenattraktion vermarkten, sagte Sigua einmal, "so wie die Juden Jesus Christus verkaufen."

Aber in einem Punkt hatte er recht: Es gibt Stalin-Fans en masse. In Russland beurteilten in einer Umfrage kürzlich 70 Prozent der Befragten die Rolle des Diktators in der russischen Geschichte komplett oder überwiegend positiv. In Georgien erklärten 2016 bei einer Befragung des US-Instituts Pew 57 Prozent der Teilnehmer, Stalin habe eine sehr positive oder überwiegend positive Rolle in der Geschichte gespielt - ungeachtet aller seiner Bluttaten. Und in Gori? Viele Menschen sind stolz auf den Sohn ihrer Stadt. Lokalpolitiker haben mit aller Macht die Umgestaltung des Museums verhindert.


"Natürlich gab es Tote durch die Repression", sagt die Museumsführerin. "Aber das waren Feinde des Landes." Sie fordert die Gruppe auf, ihr die Treppen herab zu folgen. Die kleinen Räume im Museumskeller, welche auf die Straflager eingehen, erwähnt sie nicht einmal. Statt dessen eilt sie nach draußen: zu Stalins Geburtshaus, einer winzigen Baracke, um die herum schon vor Jahren ein pompöser Säulentempel errichtet wurde. "Stalin war der Chef für die normalen Menschen", referiert die Museumsführerin. "Seine Feinde waren die Millionäre."

Zum Schluss kriegen die Franzosen Stalins gepanzerten Eisenbahnwaggon gezeigt, mit dem der Diktator durch sein Imperium gefahren wurde. Als sie wieder ans Tageslicht treten, wartet unten schon ein Souvenirverkäufer auf die Gruppe. In seinem Köfferchen: Stalin-Kühlschrankmagneten, Stalin-Streichholzschachteln, Stalin-Fotos. Der Diktator lacht oder raucht oder blickt optimistisch in die Zukunft, neben ihm die rote Sowjetfahne mit Hammer und Sichel. Das Geschäft laufe gut, sagt der Souvenirverkäufer.

 

Bei unserem Besuch (2023 und damit vier Jahre nach diesem Artikel) präsentiert sich das Museum leicht geläutert.


Liegt es am EU-Beitrittsantrag des Landes oder ist es dem Einmarsch Putins in die Ukraine geschuldet?


Blumenbukets am Fuße der Stalin Statuen sind auf jeden Fall keine mehr zu finden und in einer abgeschiedenen Ecke der Eingangshalle ist eine Tür zu entdecken, die den Zugang zu einer bescheidenen Gegen-Ausstellung eröffnet. Diese Mini-Ausstellung ermöglicht zumindest einen ungeschönten Mini-Einblick in das tatsächliche Wirken Stalins.


Den Souvenirshop mit Stalin-Fan-Artikeln gibt es allerdings noch immer. Prominent thront er inmitten der Eingangshalle. Erinnerungskultur mit deutlich Luft nach oben! 🤢

 
 
 
 

 

Auch wenn das Museum eher schwer verdaulich war und die Stadt Gori an sich nur mäßig interessant ist: Der Tag war eindrucksvoll und unsere Gastgeberin war ganz bezaubernd. Sie hat mich auf 27 geschätzt. Das gibt selbstverständlich 20 von 10 möglichen Punkten auf TripAdvisor! 🤓 PS. Und das alles für 14 EUR! 🙉🥰




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